Es gibt Stellschrauben, an denen gedreht werden kann, um zumindest eine Verbesserung der Situation zu erzielen. Eine strengere Kontrolle des Aufenthaltsorts von Asylbewerbern mag eine solche sein oder die geplanten Ankerzentren von Innenminister Horst Seehofer. In die Debatte gehört allerdings auch eine Portion Realismus: In absehbarer Zeit wird es nicht gelingen, die Zahl der Abschiebungen deutlich zu erhöhen. Dazu sind die Bretter, die gebohrt werden müssen, zu dick. Sebastian Kaiser – Badische Zeitung
Europa macht die Tür weiter zu
Die EU hat ihre Asyl- und Migrationspolitik verschärft. Der grundsätzliche Streit über die faire Verteilung von Flüchtlingen auf alle Mitgliedsstaaten bleibt aber ungelöst. Ab Sonntag muss Sebastian Kurz versuchen, das Problem zu lösen.
Und sie bewegen sich doch! Die 28 Regierungschefs der Europäischen Union haben sich darauf verständigt, die Tür zu Europa ein weiteres Stück zu schließen. Die Einigung über die künftige Strategie in der Asyl- und Migrationspolitik ist allerdings zunächst einmal nicht viel mehr als eine Ansammlung vager Bestimmungen. Vor allem die so genannten „Ausschiffungsplattformen“ außerhalb der EU, mit denen Migranten die Perspektive Europa und Schleppern die Geschäftsgrundlage entzogen werden soll, hinterlassen Skepsis. Noch hat sich kein Land bereiterklärt, sich auf diesem heiklen Terrain zu engagieren. Auch die freiwillige Aufteilung schutzbedürftiger Flüchtlinge innerhalb Europas ist nur ein frommer Wunsch. Etliche EU-Staaten weigern sich beharrlich, überhaupt Flüchtlinge aufzunehmen.
Wie auch immer: Jene Mitgliedsstaaten, die von der EU einen harten Kurs verlangten – darunter auch Österreich –, haben sich durchgesetzt. Die Tatsache, dass diese Lösung überhaupt zustande kam, könnte angesichts der tristen Ausgangssituation durchaus positiv gewertet werden. Dass die Einigung auf dem Rücken hilfloser Menschen ausgetragen wird, dass Europa auf die internationale Fluchtbewegung keine andere Antwort als die Abschottung hat, lässt die Freude über die Geschlossenheit aber rasch vergehen.
Noch ist ungewiss, wie sich der nächtliche Beschluss und die von Bundeskanzlerin Angela Merkel gesammelten Bereitschaftserklärungen zur Rücknahme von Asylwerbern auf die innerdeutsche Regierungskrise auswirken werden. CDU und CSU wollen am Wochenende beraten. Alles andere als eine Streitbeilegung wäre eine Überraschung. CDU-Chefin Merkel pocht darauf, die Forderungen der bayerischen Hardliner erfüllt zu haben. CSU-Chef und Innenminister Horst Seehofer wird es sich gut überlegen, aus rein parteitaktischen Gründen weiter einen Anti-Merkel-Kurs zu fahren. Dann nämlich könnte die CDU überlegen, dem aufmüpfigen kleinen Bruder aus dem Süden Deutschlands den Sessel vor die Tür zu stellen und sich andere Koalitionspartner zu suchen.
Bundeskanzlerin Merkel und die EU haben auf die Forderungen der Bayern und ihrer Verbündeten in Europa reagiert, die Asyl- und Migrationspolitik verschärft. Der grundsätzliche Streit über die gerechte Verteilung von Flüchtlingen in Europa aber bleibt ungelöst. Ab Sonntag muss der neue Ratsvorsitzende Sebastian Kurz versuchen, diesen gordischen Knoten zu durchschlagen. Mario Zenhäusern – Tiroler Tageszeitung
In seinen Schlussfolgerungen vom 28./29. Juni hatte der Europäische Rat die Kommission aufgefordert, „das Konzept regionaler Ausschiffungsplattformen in enger Zusammenarbeit mit den betreffenden Drittländern sowie dem UNHCR und der IOM zügig auszuloten“.
Die Staats- und Regierungschefs hatten des Weiteren dazu aufgerufen, „kontrollierte Zentren“ auf dem Gebiet der EU einzurichten – ein neuer Ansatz, der auf gemeinsamen Anstrengungen zur Erfassung von Personen beruht, die nach ihrer Rettung auf See in der EU ausgeschifft werden.
Im Nachgang an die Gipfelbeschlüsse der Staats-und Regierungschefs vom Juni hat die EU-Kommission das Konzept der „kontrollierten Zentren“ innerhalb der Europäischen Union vorgestellt. Ebenso stellt die Kommission erste Überlegungen an, wie mit Drittstaaten regionale Ausschiffungsvereinbarungen getroffen werden könnten. Beide Konzepte sollen zusammen dazu beitragen, eine gemeinsame regionale Verantwortung bei der Bewältigung der Migration zu gewährleisten.
Ziel der kontrollierten Zentren in der EU ist es, das Verfahren zur Unterscheidung zwischen Personen, die internationalen Schutz benötigen, und irregulären Migranten, die kein Recht auf Verbleib in der EU haben, zu verbessern. Dabei soll die Rückkehr der irregulären Migranten beschleunigt werden.
Ziel der regionalen Ausschiffungsplattformen in Drittstaaten ist die rasche und sichere Ausschiffung geretteter Menschen auf beiden Seiten des Mittelmeers im Einklang mit dem Völkerrecht einschließlich des Grundsatzes der Nichtzurückweisung und entsprechend einem verantwortungsvollen Verfahren nach der Ausschiffung.
Dimitris Avramopoulos, Kommissar für Migration, Inneres und Bürgerschaft, sagte: „Mehr denn je brauchen wir gemeinsame europäische Lösungen für die Herausforderungen der Migration. Wir sind bereit, die Mitgliedstaaten und Drittstaaten zu unterstützen, um eine bessere Zusammenarbeit bei der Ausschiffung von auf See geretteten Menschen zu erreichen. Damit dies aber vor Ort umgehend Wirkung zeigt, müssen wir gemeinsam handeln – nicht nur jetzt, sondern auch auf lange Sicht. Wir müssen auf nachhaltige Lösungen hinarbeiten.“
„Kontrollierte Zentren“ in der EU
Um eine geordnete, effektive Erfassung der in der Europäischen Union ausgeschifften Menschen zu erreichen, haben die Staats- und Regierungschefs der EU die Einrichtung „kontrollierte Zentren“ in der EU gefordert.
Diese Zentren würden vom Aufnahmemitgliedstaat mit voller Unterstützung der EU und der EU-Agenturen verwaltet und könnten je nach Standort vorübergehend oder ad hoc eingerichtet werden. Hauptmerkmale wären:
- volle operative Unterstützung durch Ausschiffungsteams der europäischen Grenzschutzbeamten, Asylexperten, Experten für Sicherheitsüberprüfung und Rückführungsbeamte; alle Kosten werden aus dem EU-Haushalt bestritten
- schnelle, sichere und effektive Erfassung, die das Risiko von Sekundärbewegungen verringert und die Bestimmung des Status der betreffenden Person beschleunigt
- volle finanzielle Unterstützung für freiwillig teilnehmende Mitgliedstaaten zur Deckung der Infrastruktur- und Betriebskosten sowie finanzielle Unterstützung für Mitgliedstaaten, die bereit sind, ausgeschiffte Personen aufzunehmen (6000 Euro pro Person)
Um das Konzept zu testen, könnte so bald wie möglich eine flexibel gehandhabte Pilotphase eingeleitet werden.
Die Kommission wird auch eine zentrale Anlaufstelle für die Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten bereitstellen, die sich an den Solidaritätsbemühungen beteiligen – als vorläufige Maßnahme, bis im Rahmen der laufenden Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ein ausgereiftes System eingerichtet werden kann.
Regionale Ausschiffungsplattformen
Zusätzlich zur Einrichtung kontrollierter Zentren haben die Staats- und Regierungschefs die Kommission aufgefordert, das Konzept regionaler Ausschiffungsvereinbarungen in enger Zusammenarbeit mit den UN-Organisationen IOM und dem UNHCR und in Partnerschaft mit Drittstaaten zu prüfen.
Hauptmerkmale regionaler Ausschiffungsvereinbarungen wären:
- Klare Regeln für alle: Um die Todesfälle auf See zu verringern sowie eine geordnete und vorhersehbare Ausschiffung zu gewährleisten, sollten alle Mittelmeeranrainer dazu angehalten werden, Such- und Rettungszonen festzulegen und Seenotleitungen (MRCC) einzurichten.
- Die vom UNHCR und von der IOM entwickelten Regeln werden dafür sorgen, dass ausgeschiffte Personen – auch durch Neuansiedlungsregelungen – Schutz erhalten können, wenn sie ihn benötigen, oder in ihre Herkunftsländer rückgeführt werden, wenn sie nicht schutzbedürftig sind – unter anderem im Wege der von der IOM durchgeführten Programme zur Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und der Wiedereingliederung.
- Gleichberechtigte Partnerschaften: Die Zusammenarbeit mit interessierten Drittstaaten soll auf der Grundlage bestehender Partnerschaften vorangebracht werden. Ihnen soll eine auf ihre jeweiligen politischen, sicherheitspolitischen und sozioökonomischen Gegebenheiten zugeschnittene Unterstützung angeboten werden.
- Keine Pull-Faktoren: Neuansiedlungsmöglichkeiten werden nicht für alle ausgeschifften Menschen, die internationalen Schutz benötigen, verfügbar sein, und die Aufnahmestellen sollten soweit wie möglich von den Orten irregulärer Abreise entfernt sein.
- Keine Inhaftnahme, keine Lager: Mit den regionalen Ausschiffungsvereinbarungen werden Vorgehensweisen und Vorschriften vorgegeben, die eine sichere und geordnete Ausschiffung gewährleisten und sicherstellen sollen, dass nach der Ausschiffung die entsprechenden Verfahren unter uneingeschränkter Achtung des Völkerrechts und der Menschenrechte abgewickelt werden.
- Finanzielle und logistische Unterstützung der EU: Die EU ist bereit, finanzielle und operative Unterstützung für die Ausschiffung und die sich daran anschließenden Maßnahmen sowie für das Grenzmanagement in Form von Ausrüstung, Ausbildung und anderen Formen der Unterstützung bereitzustellen.
Nächste Schritte
Es wird erwartet, dass die Botschafterinnen und Botschafter morgen (25. Juli) das Konzept der kontrollierten Zentren in der EU und die Möglichkeit einer raschen Einführung eines Übergangsrahmens für die Ausschiffung von aus Seenot geretteten Menschen in der EU erörtern werden.
Die Arbeiten zu regionalen Ausschiffungsvereinbarungen werden ebenfalls morgen behandelt und voraussichtlich auf einer Sitzung mit der IOM und dem UNHCR am 30. Juli 2018 in Genf fortgeführt. Erst wenn ein gemeinsames Vorgehen auf EU-Ebene vereinbart ist, wird die EU an interessierte Drittstaaten herantreten.